Nordost

Umwelt und Klima
VCD Nordost aktuell

Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem

So viel Einigkeit ist in der Berliner Verkehrspolitik selten. Bezirksstadträt*innen aller Parteien unterschreiben einen Brandbrief an Verkehrsminister Wissing. Dann veranstaltet der VCD Nordost die Podiumsdiskussion „Berliner Verkehrswende - vom Verkehrsrecht ausgebremst?" Die anwesenden Berliner Politiker plädieren alle für Engagement und sehen Potenzial für eine schnellere Mobilitätswende in Berlin. Grundsätzlich. Dann kommen die Details.

Der Schock ereilte uns am Morgen der Veranstaltung: Stadträtin Annika Gerold erkrankt! Nach mehreren Stunden die Erkenntnis: alle grünen Stadträt*innen und politischen Vertreter*innen im Abgeordnetenhaus (AGH) entweder in Terminen oder krank.

Die Veranstaltung sagen wir nicht ab. Zu wichtig das Thema. Unsere kompetenten Gäste auf dem Podium: Martin Schäfer, CDU-Verkehrsstadtrat aus Lichtenberg; Karl Ronneburg, Sprecher des Verkehrsausschusses des Abgeordnetenhauses (AGH) für die Linke; Stephan Machulik, verkehrspolitischer Sprecher der SPD im AGH und Heiner von Marschall, Landesvorsitzender des VCD Nordost. Vor der Diskussion erläuterte er anschaulich die Vorteile, des vom VCD entworfenen und geforderten Bundesmoblitätsgesetz.

Zu Beginn der Podiumsdiskussion herrscht große Einigkeit unter den Parteivertretern. Stephan Machulik lobt den Brandbrief, denn er zeige, dass alle Parteien merkten, welch Potenzial nach oben die Verkehrswende in Berlin noch habe. Der Bund wolle durchaus etwas ändern, es gäbe erste Dialoge. Ihnen auf der Landesebene seien die Hände gebunden und inzwischen könne man den Bürger*innen einige Dinge nicht mehr klar machen.

Zum Beispiel, dass der Bundesverkehrsminister den Stadträt*innen auf den Brandbrief bis heute nicht geantwortet hat?

Weiterhin weist Stephan Machulik darauf hin, dass die Herangehensweise des VCD ja eine ganz andere sei, als die der gegenwärtigen Politik. Man solle beides verfolgen, doch auch bedenken, dass ein Zeithorizont von 2 bis 5 Jahren für Verwaltung und die Politik schon rasant sei.

Wie sieht denn dann die so andere Herangehensweise des VCD-Vorschlages aus?

Die zentrale Ursache für die weiterhin zu hohen Treibhausgasemissionen unserer Mobilität, für die Vielzahl der im Straßenverkehr Getöteten/Schwerverletzten und für die andauernd schlechten Anbindung ländlicher Regionen sieht der VCD in einem veralteten Rechtsrahmen. Übergeordnete Ziele und Strategien für die Entwicklung der Mobilität und des Verkehrs unter Nachhaltigkeitsaspekten und inklusive aller Verkehrsmittel fehlen. Der VCD Entwurf macht Vorschläge für einen Paradigmenwechsel in der Verkehrspolitik. Jurist*innen haben diesen in einen vollständig neuen modernen Rechtsrahmen gegossen.

In seiner sechsjährigen Arbeit im Petitionsausschuss des AGH beobachtet Kristian Ronneburg eine Zunahme an Eingaben von Bürger*innen. Sie betreffen zum Beispiel verkehrsberuhigende Maßnahmen wie Tempo 30 oder Fußgängerüberwege, die durch das Pingpong zwischen Land und Bezirken keine Umsetzung fänden, wenn Verkehrszählungen der Bezirke bei der Senatsprüfung durchfielen, weil wahlweise Corona, Baustellen oder Ferien die Ergebnisse verfälsche. Da brauche es von Bundesseite her ein starkes Signal, einen übergeordneten Rahmen, um Ziele wie Lärmverringerung, Sicherheitserhöhung, Gesundheitsverbesserung zu erreichen. In Berlin brauche es eine Klarheit an Zuständigkeiten, damit eine Mobilitätspolitik aus einem Guss – man wage es kaum auszusprechen – trotz der diversen Anforderungen in den Bezirken gelänge.

Es erheben sich Zweifel.

Bezirksstadtrat Schäfer glaubt nicht daran, dass in Berlin irgendwann eine Zuständigkeitsklarheit herrschen kann. Ampelschaltungen über die Bezirke zu regeln, um Kreuzungen nach Bedarf der querenden Fußgänger*innen zu regeln, ist für ihn ein no-go und birgt Potenzial für Riesenprobleme. Auch wenn über den Senat verfügte neue Ampelschaltungen gerne mal zwei Jahre oder länger dauern.

Doch wie passen nun die lokalen Ampelschaltungen mit dem VCD Bundesmobilitätsgesetz zusammen?

Von Marschall verweist auf das in Deutschland einzigartige Berliner Mobilitätsgesetz. Denn hier wurden übergeordnete Ziele gesetzlich festgeschrieben und Konfliktlösungen zwischen verschiedenen Interessenparteien seien so leichter zu finden. Zur Zeit gäbe es formale Ausbremsmanöver durch die Bundesebene bzw. durch Klagen, in denen das Verwaltungsgericht eine am Autoverkehr orientierte Bundesvorschrift heranziehen müsse anstatt zu fragen, ob eine Maßnahme (siehe Friedrichstraße oder Busspur Clayallee) der Mobilitätswende diene oder nicht.

Machulik beklagt, dass es noch immer keine klaren Regelungen für die Pop-Up-Radwege gäbe und das eklektische Pollersystem nicht nur verwirre, sondern auch teuer sei. Auch uneinheitliche Regelungen an Kreuzungen verunsichere Menschen. Auch wenn die Mobilität sich ständig verändere müsse es klare Standards geben.

Ronneburg betont, dass das verkehrliche Umdenken ja erst vor drei Jahren begonnen hätte und Personal knapp sei.

Von Marschall wird ungehalten. Wir seien mitten in einer Klimakrise und wir wüssten, dass der Verkehrssektor der einzige sei, in dem es seit 1990 keine CO2 Einsparungen gäbe. Das Berliner Bündnis für Straßen habe schon vor drei Jahren gesagt, dass der Berliner Autoverkehr um 50% gesenkt werden müsse, der Modal Split drastisch zu verändern sein. Die Maßnahmen seien an den Zielen zu messen und darüber sei noch kaum geredet worden. Das sei kein Erkenntnis- sondern ein Umsetzungsproblem. Aufgrund des Zeitfaktors seien nicht nur Pullmaßnahmen zu entwickeln sondern Pushmaßnahmen ernst nehmen. Für die dringend notwendige Mobilitätswende läuft uns die Zeit davon.

Wer von den Diskutanten geht da mit?

Bezirksstadtrat Schäfer nicht. Er setze auf Überzeugung statt Zwang. Die Mittel des Bezirks seien begrenzt, die Zuweisung des Senats viel zu niedrig. Er müsse zu Ungunsten der Mobilitätswende priorisieren und investiere die knappen Mittel in die Bildung und den Schulbau für die wachsende Bevölkerung im Bezirk. Die Verkehrswende sei bis 2030 nicht zu schaffen, nur sage das niemand.

Aus dem Publikum bestätigt Christiane Heiß vom VCD Nordost Vorstand, dass die Berliner Vorgehensweise von Einzelfallprüfung und Gefahrennachweis nicht an Gestaltungszielen orientiert sei. Die nötige Transformation könne mit dem existierenden Recht nicht gelingen. Sie habe eine Prozessanalyse Radverkehr in der Stadt angestoßen. Das Durchlaufen von einzelnen Planungsschritten durch alle Hierarchien vor dem nächsten Schritt, ließe Planungen versanden. Dadurch sei sehr viel Personalgeld und Personalzeit schlecht investiert. Berlin könne sich das nicht leisten. Denn der kritische Faktor Personal würde in den nächsten Jahren eher schlimmer als besser.

Warum nicht eine Beweislastumkehr? Die Frage solle in Zukunft sein, ob denn ein neuer Fußgängerüberweg vor einer Grundschule wirklich den Verkehr zum Erliegen brächte. Dann seien Umsetzungen anzustreben, die wenige bauliche Maßnahmen erfordern, damit kostengünstiger und mit dem vorhandenen Personal umsetzbar seien.

Ein weiterer Gast vermisst einen entscheidenden Punkt: Die beste Mobilität sei doch die, die gar nicht notwendig sei. Auch ÖPNV und E-Mobilität seien ja nicht zum Nulltarif zu haben. Planungen wie die 15-Minuten-Stadt hingegen, in der alles Wichtige in fußläufiger Entfernung erreichbar ist, ließen Mobilität zu, die wenig koste und fast klimaneutral sei.

Ronneburg lobt den Ansatz der 15 Minutenstadt und plädiert für eine übergreifende Planung der Ressorts Verkehr und Stadtentwicklung. Machulik gibt zu bedenken, dass Verkehrsplaner*innen in Bezirken keine Karriereaussichten hätten und deshalb die guten Leute die Bezirksämter zu schnell wieder verließen. Schäfer mahnt mehr Verkehrssicherheit an.

Von Marschall will weg von den Einzelfallprüfungen und fordert mehr allgemeine Vorgaben, um endlich schneller voran zu kommen, z.B. auf jeder Straße mit mindestens zwei Spuren pro Richtung sei die rechte Spur dem Radverkehr zu widmen. Für den ÖPNV als Rückgrat der städtischen Mobilität muss ebenfalls ein Vorrangnetz festgelegt werden, in dem bei neuen Planungen z.B. einer Tram absoluter Vorrang in der Straßengestaltungeinzuräumen ist, der sich alle anderen Verkehrsarten unterzuordnen hätten. Das Fahrrad-Vorrangnetz müsse davon getrennt geführt werden. Der Fußverkehr sei in Kiezzentren und bei Umsteigesituation mit Vorrang zu behandeln.

Vielleicht lag es an unserem Veranstaltungstitel, der auf Recht und Gesetz abhob. Der ja fragte, ob Gesetze die Verkehrswende in Berlin ausbremsen, dass die Diskutanten gedanklich in den von ihnen bedauerten Strukturen verblieben. Sie benannten keine Ideen, die der Verkehrswende den notwendigen Schub geben könnten. Doch kann diese Bremsart vielleicht in weiteren Gesprächen gelöst werden.

Und die Standards? Einige liegen im Ermessen auf der Bezirks- und Landesebene. Da braucht es mehr Initiative in Berlin. Doch viele andere verlangsamen sich aufgrund des Straßenverkehrsrecht und der Straßenverkehrsordnung.

Herr Wissing, wir müssen über Erkenntnis und Umsetzung reden.

Von Regine Wosnitza

zurück