Verkehrssicherheit,
Umwelt und Klima,
Pressemitteilung
VCD Nordost aktuell
Eine Einordnung durch den Landesvorsitzenden des VCD Nordost Heiner von Marschall.
Der Verkehrsversuch, für den die Berliner Friedrichstraße für den motorisierten Verkehr gesperrt wurde, lässt derzeit die Gemüter hochgehen und wird voraussichtlich auch im aufkommenden Wahlkampf eine Rolle spielen. Wahlweise kommen Vorwürfe auf wie „ideologisch“, „übereilt“ oder „ohne Konzept“. Insofern bedarf es aus unserer Sicht einer sachlichen Einordnung:
Nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes, sondern auch der Effizienz ist ein Umbau unseres Verkehrssystems weg vom motorisierten Individualverkehr (MIV) und hin zum Umweltverbund (ÖPNV, Fahrrad, Fuß) zwingend. Gerade auch Autofahrende, die täglich im Stau stehen, bemerken, dass die vorhandenen Verkehrsflächen bereits heute nicht ausreichen. MIV als der Regelfall für alle wäre schlicht unmöglich. Es gilt daher, die begrenzten Flächen möglichst effizient zu nutzen, um möglichst viele Menschen darauf mobil zu machen. Aufgrund des Platzbedarfs pro beförderter Person ist der MIV das mit Abstand am wenigsten flächeneffiziente Verkehrsmittel.
Ein weiterer dringender Grund ist die Verkehrssicherheit: Jedes Jahr sterben im Berliner Straßenverkehr 40 bis 50 Menschen, vor allem Kinder und Ältere. Todesursache ist in aller Regel ein Kfz.
ÖPNV, Fahrrad und Fußverkehr sind wesentlich flächeneffizienter was den Platz pro Person angeht. Diesen Verkehren ist daher Vorrang einzuräumen insbesondere dort, wo sie sich bündeln. Für den Fußverkehr sind dies insbesondere Einkaufsstraßen (oder solche die es werden wollen), Ortsteilzentren und zentrale Umsteigepunkte des ÖPNV.
Viele Maßnahmen dauern in Deutschland viel zu lang, da zunächst alles bis ins Detail perfekt geplant sein muss, bis es zur Umsetzung kommt. Und oft merkt man dann, dass es trotzdem nicht richtig funktioniert.
Dem gegenüber hat sich die Methode Pop Up bewährt, auch in der Friedrichstraße: Dinge erst einmal mit einfachen Mitteln temporär einrichten, schauen was funktioniert und wo nachgebessert werden muss, bevor sie baulich verstetigt werden. Eine Kritik am Versuch an sich ist kontraproduktiv. Im Gegenteil hat sich der Versuch in der Praxis bewährt, um Mängel aufzuzeigen und abzustellen. Genau das passiert gerade in der Friedrichstraße und ist zu begrüßen.
Nach Beginn des Verkehrsversuches wurde vor allem kritisiert, dass die gewonnenen Flächen nicht attraktiv gestaltet und kaum nutzbar wären, sowie dass der schnurgerade Radweg in der Mitte zu schnell befahren werde, sodass Fußverkehr kaum kreuzen könne. Tatsächlich wurden bereits während des Versuchs mehrere Tempokontrollen durchgeführt, die eine zu hohe Geschwindigkeit des Radverkehrs ausdrücklich nicht bestätigten. Auch wurden Überwege markiert, die weitgehend funktionierten.
Als VCD Nordost haben wir frühzeitig vorgeschlagen, den Radweg abwechselnd an den beiden Fahrbahnseiten zu führen. Dadurch würden größere zusammenhängende Flächen gewonnen, die vor Publikumsmagneten wie den Galeries Lafayette oder auch gastronomischen Einrichtungen mehr Möglichkeiten für attraktive Gestaltung und Nutzung bieten. Durch die mehrmalige Verschwenkung des Radweges zwischen den Fahrbahnseiten würde Tempo herausgenommen und der gesamte Straßeneindruck würde sich durch das Herausnehmen der schnurgeraden Schneise in der Mitte positiv verändern. Dies halten wir auch immer noch für eine machbare Lösung der während des Versuchs aufgetretenen Kritikpunkte.
SenUMVK hat sich nun aufgrund der Ergebnisse des Versuchs entschieden, den Blick auf den gesamten Kiez zu weiten und die verschiedenen Verkehre ganz zu trennen, indem die Friedrichstraße zur reinen Fußverkehrszone werden soll und in der parallelen Charlottenstraße eine Fahrradstraße eingerichtet wird. Die Busse des ÖPNV sollen durch die ebenfalls parallele Glinkastraße fahren.
Der Ansatz, die Vorrangnetze der verschiedenen Verkehrsarten auch im Umweltverbund möglichst zu trennen, wird von allen Verbänden, auch uns, nachdrücklich unterstützt. Auch Fahrrad-Vorrangrouten sollen nicht mitten durch Einzelhandelszentren führen, sondern nahe daran vorbei, um sie für Fahrradverkehr erreichbar zu machen, während im zentralen Bereich dem Fußverkehr Vorrang eingeräumt wird. Denn gerade die Kunden sind am Ende immer zu Fuß.
Der Vorwurf, der Einrichtung der Fußgängerzone und der Fahrradstraße liege kein Konzept zugrunde, geht daher fehl. Zum einen wird auf die während des Versuchs gemachten Erfahrungen aufgebaut, zum anderen folgt die Lösung dem Grundsatz der getrennten Vorrangnetze und setzt sie um.
Nach dem Urteil des Verwaltungsgerichtes, dass der Verkehrsversuch bis zum 22.11.22 abzubauen ist, standen die Verantwortlichen unter hohem Zeitdruck, eine neue Lösung zeitnah zu implementieren. Insofern ist das nun in Umsetzung befindliche Konzept nicht vollständig, kann es auch gar nicht sein, und muss entsprechend weiterentwickelt werden.
Ziele sind aus unserer Sicht: eine attraktiv gestaltete Fußgängerzone mit hoher Aufenthaltsqualität, eine sichere und möglichst unbeeinträchtigte Fahrrad-Verbindung, Sicherstellung des Anlieger- und vor allem Lieferverkehrs, Herausnahme des motorisierten Durchgangsverkehrs.
Motorisierter Durchgangsverkehr hat im Zentrum unserer Stadt nichts zu suchen. Umfahrungsmöglichkeiten in Nord-Süd-Richtung sind über den Alexanderplatz und insbesondere durch den Tiergartentunnel vorhanden.
Die Fußgängerzone in der Friedrichstraße sollte attraktiv gestaltet sein mit hoher Aufenthaltsqualität. Dazu gehören Aufenthaltsflächen, auch für Kinder, Außengastronomie sowie ein möglichst hohes Maß an Begrünung, Entsiegelung und weiterer Maßnahmen zur Klimaanpassung. Lieferverkehr sollte, wenn überhaupt, auf die frühen Morgenstunden begrenzt werden.
Die Fahrradstraße muss gegen Fehlnutzung zuverlässig geschützt werden. Dazu fordern wir vor allem, dass die Ein- und Ausgänge zwischen Unter den Linden und Behrenstraße einerseits und zwischen Leipziger Straße und Kronenstraße andererseits durch Modalfilter für motorisierten Verkehr baulich gesperrt werden. Die aktuelle neue Einbahnstraßenregelung halten wir für suboptimal und sollte überprüft werden. Aktuell wird sie durch Kfz nicht respektiert.
Auch um motorisierten Durchgangsverkehr insgesamt zu verhindern, sollte die Fußgängerzone bis Unter Den Linden erweitert werden, sodass der gesamte Bereich um den Gendarmenmarkt von Norden nicht mehr ein- oder ausgefahren werden kann. ÖPNV-Busse und Taxis können über die Glinkastraße nach Unter Den Linden ausfahren.
Liefer- und Anliegerverkehr sollte immer in der Richtung ausfahren müssen, aus dem er auch gekommen ist. Dafür bietet sich der Zugang von der Leipziger Straße über die Markgrafenstraße an. Eine zweite Zu- und Ausfahrt über Französische und Breite Straße kann geprüft werden, auch damit größere Fahrzeuge nicht wenden müssen.
Durch die Herausnahme des motorisierten Durchgangsverkehrs wird das Verkehrsaufkommen rund um den Gendarmenmarkt insgesamt sinken, was allen zugutekommt, insbesondere auch dem Anlieger- und Lieferverkehr.
Dass zwischen einem Verkehrsversuch und seiner Verstetigung aufgrund gemachter Erfahrungen erst einmal der vorherige Zustand wiederhergestellt werden muss ist offensichtlich absolut widersinnig. Ein Mehrwert besteht allenfalls darin, dass allen Beteiligten der unhaltbare Zustand davor nochmals vor Augen geführt wird. Und dass wir alle sehen werden, dass die Autos den Einzelhandel schon wieder nicht retten werden.
Grund für diesen Widersinn ist die fehlende Rechtsgrundlage, den Versuch bis zu seiner Verstetigung aufrechtzuerhalten, um nicht zu einer zwischenzeitlichen Verschlechterung gezwungen zu sein.
Die StVO wurde zwar geringfügig angepasst, um Verkehrsversuche zu erleichtern, aber fast alle Kommunen beklagen, dass sie in ihren Handlungsspielräumen weiterhin viel zu eingeengt sind, als dass sie das Richtige einfach entscheiden und tun könnten.
Wir sehen an vielen Stellen, dass die aktuelle Verkehrs- und Straßengesetzgebung mit ihrem Fokus auf den MIV den Zielen von Klimaschutz, Mobilitätswende und Verkehrssicherheit entgegensteht und diese massiv ausbremst. Grund ist, dass überhaupt nicht zentral geregelt ist, welche Ziele Verkehrspolitik verfolgen soll, um geplante Maßnahmen entsprechend abzuwägen.
Der VCD fordert daher ein Bundesmobilitätsgesetz, das Ziele und Kriterien regelt und auch die Finanzierung sicherstellt, damit wir auch im Verkehrssektor endlich unseren Verpflichtungen für Klimaschutz, Verkehrssicherheit und echter Mobilität für alle, auch ohne Führerschein, nachkommen.
2021 hat der VCD den Entwurf für ein Bundesmobilitätsgesetz vorgelegt, das aber auch in der Ampelkoalition leider nicht wirklich vorankommt:
https://www.vcd.org/bundesmobilitaetsgesetz
Für Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung
Pressekontakt VCD Nordost:
Heiner von Marschall, Landesvorsitzender
Email: Tel: 0174 465 65 23
www.vcd-nordost.de
Mobilitätswendeheißt für uns:
Die Transformation unseres Verkehrssystems, das vorrangig auf privatem Autobesitz basiert und sich auch daran ausrichtet, hin zu einer umwelt- und klimaverträglichen Mobilität für alle im Umweltverbund (ÖPNV, Fahrrad, Fußverkehr), ergänzt durch Sharing sowie Liefer- und Fahrdienste für Personen und Güter. Dies ermöglicht gleichzeitig die Vision Zero.