VCD Nordost aktuell
Im Rahmen meiner ÖBFD-Seminarfahrt als Bundesfreiwilliger für den VCD Nordost nahm ich an einem Experiment teil, das eine Perspektive erlebbar macht, die von Menschen ohne Behinderung leicht übersehen wird: Die eines Rollstuhlfahrers. Als Begleitperson konnte ich erkennen, welche Schwächen unsere städtischen Verkehrs- und Infrastrukturplanung tatsächlich im Bereich Barrierefreiheit aufweist.
Von Marius Hofinger, im Ökologischen Bundesfreiwilligendienst (ÖBFD) für den VCD Nordost
In Gruppen bestehend aus einer rollstuhlfahrenden Person und bis zu zwei Begleitpersonen haben wir mehrere Stunden in einer uns fremden Stadt verbracht. Eine Alltagssituation, wie sie etwa im Urlaub entstehen könnte. Dabei suchten wir Orte auf, die alltäglich und auf den ersten Blick problemlos zugänglich sind: Sehenswürdigkeiten in der Innenstadt, ein Jahrmarkt, ein Café und verschiedene Geschäfte.
Doch schnell offenbarte sich eine urbane Realität, die mit barrierefreier Mobilität wenig zu tun hat: Bürgersteige waren zu eng, oft von parkenden Autos blockiert. Der Ausweichweg führte regelmäßig auf die Fahrbahn – mit Kopfsteinpflaster und direktem Straßenverkehr. Viele Umwege, die wir nehmen mussten, verlängerten unsere Route erheblich – und das bei ohnehin steilen Straßen, die die gesamte Strecke zusätzlich erschwerten. Oft waren Geschäfte und öffentliche Einrichtungen nur über Stufen erreichbar oder waren im Inneren auf eine Art eingerichtet, die es Rollstuhlfahrern unmöglich macht sie zu erkunden. Selbst, wenn Rampen existierten, waren diese teilweise zu Steil, um sie ohne Hilfe realistisch überwinden zu können.
Ein besonders prägnantes Beispiel zeigte sich beim Versuch, eine offiziell ausgeschilderte Behindertentoilette in einem öffentlichen Gebäude zu nutzen: Der Zugang erfolgte über einen Nebeneingang mit Klingel, das Personal musste extra verständigt werden. Drei Stufen machten eine direkte Zufahrt unmöglich – eine Rampe fehlte, stattdessen warteten wir mehrere Minuten auf den dort platzierten Fahrstuhl, um mit diesem dann ca. einen Meter nach oben zu fahren. Dort angekommen war die Toilette abgeschlossen und konnte nur durch das Personal geöffnet werden. Die regulären Toiletten – direkt daneben – waren währenddessen jederzeit öffentlich zugänglich. Was als einfacher Zwischenstopp geplant war, wurde so zu einer erheblichen Verzögerung, die am Ende nur durch großen körperlichen Einsatz und eine schnelle Fahrt während des Rückwegs aufgefangen werden konnte.
Ein weiterer Vorfall hat mir sehr deutlich gemacht, wie eng Verkehrsplanung und Rücksichtnahme miteinander verknüpft sind: Auf unserem Weg hielt plötzlich ein Kleintransporter wenige Meter vor uns mit zwei seiner Räder auf dem ohnehin schmalen Gehweg an – offenbar, um eine Lieferung zu tätigen. Damit blockierte er den Weg komplett, sodass wir mit dem Rollstuhl gezwungen waren, auf die Straße mit unebenem Kopfsteinpflaster auszuweichen. Das war nicht nur mühsam, sondern vor allem auch gefährlich. Dabei ist die gesetzliche Grundlage klar: Parken auf Gehwegen ist nur erlaubt, wenn dadurch niemand behindert oder gefährdet wird – insbesondere Kinder, ältere Menschen oder Menschen mit Beeinträchtigungen. Dieser Vorfall war kein Einzelfall, sondern ein Symptom struktureller Probleme im urbanen Verkehrssystem – zwischen schlecht gestalteter Infrastruktur, unzureichender Kontrolle und fehlendem Problembewusstsein.
Als Begleitperson war ich vor allem für das Schieben des Rollstuhls auf den schwierigeren Passagen verantwortlich. Dabei war uns wichtig, nur dort einzugreifen, wo es wirklich nötig war – um die Eigenständigkeit des Rollstuhlfahrers zu wahren. Doch genau diese Selbstbestimmtheit wird in vielen städtischen Situationen systematisch eingeschränkt – durch schlechte Wegeführungen, mangelnde Barrierefreiheit und ein Umfeld, das oft nicht auf Inklusion ausgerichtet ist. Digitale Tools wie Google Maps bieten heute bereits barrierefreie Routenplanung an – doch auch diese stoßen in der Realität schnell an ihre Grenzen.
In der anschließenden Reflexionsrunde wurde deutlich: Die Erfahrung hat nicht nur unsere Sicht auf Mobilität verändert, sondern auch auf die Rolle, die Städteplanung, Verkehrsführung und das Verhalten im öffentlichen Raum für gesellschaftliche Teilhabe spielen. Zwar erlebten wir viel Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung, aber auch eine spürbare Aufmerksamkeit, die mal neugierig, mal mitleidig wirkte. Und vor allem: eine Stadtstruktur, die Menschen mit Mobilitätseinschränkungen viel Zeit, Kraft und Umwege abverlangt. Das Experiment hat mir eindrücklich gezeigt: Mobilitätswende bedeutet mehr als nur den Umstieg vom Auto aufs Fahrrad oder den Ausbau des ÖPNV. Sie muss auch heißen: Zugänglichkeit für alle – in jeder Straße, an jeder Haltestelle, in jedem Gebäude.
Was wir brauchen, ist ein Perspektivwechsel in der Verkehrsplanung. Mehr Beteiligung Betroffener, mehr gelebte Inklusion – und vielleicht auch mehr solcher Erfahrungsformate, sei es in Schulen, Verwaltung oder Politik. Denn nur wer Barrieren selbst erlebt hat, wird wirklich verstehen, warum sie verschwinden müssen.
Wenn du dich auch für einen ökologischen Bundesfreiwilligendienst beim VCD-Nordost interessierst, dann gibt es hier weitere informationen:
https://nordost.vcd.org/service/jobs/bundesfreiwilliger
Weitere Links zum Thema Barrierefreiheit in der Verkehrswende:
Projekt: „Sicher und Barrierefrei“ - https://nordost.vcd.org/der-vcd-im-nordosten/projekte/sicher-und-barrierefrei-mobil
VCD-Flyer zur Barrierefreiheit - https://nextcloud.vcd.org/index.php/s/efdoBcTwkwqRgp4